Nichts ist beständiger als der Wandel – Transformationspfade in der Metropole Ruhr
Die gesellschaftspolitischen Räte des Bischofs von Essen sind seit Jahrzehnten eine Instanz des Bistums im Austausch verschiedenster Expert:innen und Entscheider:innen des Ruhrgebiets mit dem Essener Bischof – fachlich beratend und zu gesellschaftlichen Fragen Stellung beziehend.
Transformation ist dabei ein geflügeltes Wort, das mitunter die Agenda der Räte für Wirtschaft und Soziales sowie für Ökologie und Nachhaltigkeit bestimmt.Unser Akademiedozent Mark Radtke, der als Geschäftsführer der bischöflichen Räte für die Koordination und inhaltliche Arbeit der Räte verantwortlich ist, hat mit den Sprechern der Räte Dr. Peter Güllmann (Wirtschaft und Soziales) und Dr. Lars Grotewold (Ökologie und Nachhaltigkeit) zum Transformationsbedarf der Metropole Ruhr gesprochen, dem angesichts der vielen Krisen immer schwieriger nachzukommen ist.Vorab eine philosophische Frage an Sie beiden: Liegt in der Veränderung eine Beständigkeit?Sie rekurrieren ja auf die griechischen Philosophen Heraklit und Permanides. Heraklit sagte im Grunde genommen, dass das Einzige, was beständig ist, der Wandel sei. Permanides hingegen sprach sinngemäß davon, dass das, was man als Wandel wahrnimmt, eine Illusion sei und dass die Gegenwart oder das, was ist, eigentlich unveränderlich ist. Ich bin eher bei Heraklit: Nichts ist so beständig wie der Wandel. Das zeigt sich ja gerade auch im Ruhrgebiet. Wenn man sich den Transformationsprozess der letzten Jahrzehnte anschaut, dann ist dieser Wandel eigentlich Teil des Alltags. Diesen zu bewältigen, zu gestalten, nicht nur hinzunehmen, sondern etwas daraus zu machen, das ist, so denke ich, die große Aufgabe, vor der insbesondere auch diese Region immer steht.Grotewold: Da bin ich ganz dabei: Beständig ist nur der Wandel. Es gab immer Veränderung etwa in der kulturellen Evolution des Menschen. Und trotzdem glaube ich, dass die Zeiten, in denen wir uns derzeit befinden, qualitativ nochmal anders sind. Wir sind einer Polykrise ausgesetzt, all den neuen Herausforderungen, was Sicherheitslagen, natürlich die Klima- und Nachhaltigkeitstransformation und eine Bedrohung unserer Demokratie von außen und von innen angeht. Die Gleichzeitigkeit und die Wechselwirkung zwischen diesen unterschiedlichen Krisen sind in Quantität und Qualität neu. Mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Deutschland, somit auch für das Ruhrgebiet, sehen wir eine Zeitenwende, da die vier zentralen Grundpfeiler unseres deutschen Wohlstandsmodells ins Wanken geraten sind: billige fossile Energie, hohe Verfügbarkeit von Fachkräften, technologische Führerschaft in vielen Sektoren und ein immer besserer Zugang zu den Weltmärkten. All das steht nun zur Disposition – und das Klima habe ich noch nicht einmal erwähnt. Wir haben einen hohen Transformationsbedarf, der gestaltet werden muss, sonst werden wir lediglich Zuschauer des Wandels sein. Die sich ergebende Gestaltungsaufgabe für Wirtschaft, Zivilgesellschaft und die Politik muss aktiv angegangen werden.Wenn es eins gibt, wofür das Ruhrgebiet seit Jahrzehnten steht, dann ist es die Transformation. Dabei ist etwa die Transformation der Wirtschaft längst nicht abgeschlossen. Vor allem die Industrie hat es in der gegenwärtigen Zeit sehr schwer. Welche Bedeutung kommt dem Industriestandort Ruhrgebiet zu und welche künftigen Chancen sehen Sie für die Metropole Ruhr ökonomisch sowie sozial?Güllmann: Die aktuelle Diskussion über die Zukunft des Stahlstandortes in Duisburg macht es besonders deutlich. Thyssenkrupp als Sinnbild für das Industrieunternehmen des Ruhrgebiets schlechthin trifft es besonders stark. Es stellt sich ganz klar die Frage, welche Zukunft die Industrie im Ruhrgebiet hat. Oder anders gewendet: Hat Industrie überhaupt noch eine Zukunft? Ich würde die Frage klar bejahen – sie muss eine Zukunft haben. Wenn wir es nicht schaffen, Industriearbeitsplätze im Ruhrgebiet dauerhaft und zukunftsorientiert zu halten, dann hat diese Region nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein soziales Problem. Deswegen ist es sehr wichtig, dass wir eine Diskussion darüber führen, wie wir es schaffen, zukunftsfeste Industriearbeitsplätze im Ruhrgebiet zu erhalten. Dabei muss nicht alles so bleiben, wie es ist. Industrie muss es hier zukünftig aber geben, da sie nicht nur diese Region, sondern ganz Deutschland großgemacht hat. Ich bin wirklich kein Anhänger von Deindustrialisierungsfantasien für die drittgrößte Volkswirtschaft der Erde. Und dazu bedarf es auch einer leistungsfähigen Stahlindustrie sowie einer Grundstoffindustrie. Genau das muss hier im Ruhrgebiet realisiert werden können. Daher ein ganz klares Plädoyer dafür, Industriearbeitsplätze zu erhalten. Und das korrespondiert meines Erachtens auch mit der Frage des Zugangs zu günstiger oder preiswerter Energie. Das wird man nicht von heute auf morgen auf grüne, saubere Energie umstellen können – es ist ein Prozess. Dieser Übergangsprozess muss flankiert werden. Und dann wird man sich die Diskussion wohl auch erlauben müssen, zu fragen, wie viel uns das kosten darf.Radtke: Im Gesamtkontext ist das heutige Ruhrgebiet aber natürlich mehr als nur die Industrie. Der Wandlungsprozess aus den 1960er Jahren von der Kohle weg hin zu einer Wissensgesellschaft etwa ist bereits erfolgreich vollzogen worden. Ein weiterer Bereich, der häufig unterschätzt wird, ist die Gesundheitswirtschaft und ihre enorm wichtige Rolle für das Ruhrgebiet. Damit möchte ich deutlich machen, dass wir uns als industrielastige Region bereits diversifiziert haben. Dennoch bleibt meine zukünftige Vision des Ruhrgebietes ganz klar: Industrie muss es in dieser Region weitergeben. Und in Ergänzung: Thyssenkrupp muss es in dieser Region weiter geben. Gleichzeitig müssen wir Neues daneben stellen, was dann auch wächst. Und das geht nur über Bildung, Bildung und nochmals Bildung.Herr Grotewold, in Anbetracht der momentanen Polykrisen scheint es, dass vor allem die ökologische Wende das Nachsehen hat. Wie dramatisch ist ein Vernachlässigen der grünen Transformation und welche Schritte könnten heute schon gemacht werden hin zur „grünsten Industrieregion der Welt“, wie es der Regionalverband Ruhr ausruft?Grotewold: Wenn wir auf das gesellschaftliche Klima und den politischen Diskurs zu den Themen Klima und Nachhaltigkeit schauen, dann würde ich zunächst die Grobbeobachtung teilen, dass wir ein Stück weit in die Defensive geraten sind. Meines Erachtens nach müssen wir zwei Bereiche adressieren. Es ist zum einen die gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit. Es gibt nachvollziehbarer- und richtigerweise eine politische Umpriorisierung aufgrund einer neuen Sicherheitslage in Europa, die sicherlich wenige von uns in dieser Form erwartet hätten. Zum anderen haben wir es mit einem finanziellen Ressourcenproblem zu tun. Neben dem eben gehörten Ausruf „Bildung, Bildung, Bildung!“ würde ich „Investition, Investition, Investition!“ als zentrale Forderung anführen, um diese Transformation zu gestalten. Momentan begeben wir uns aber in eine Phase stagnierender Haushalte. Das erhöht bei einer steigenden Transformationsnotwendigkeit den Druck. Wir müssen also schlauer darin werden, mit den öffentlichen Mitteln diejenigen privaten Mittel zu heben, die einen Großteil dieser Transformationen ausmachen. Um nach vorne schauen zu können, müssen ferner die Zusammenhänge der Nachhaltigkeitstransformation mit all den genannten Herausforderungen einer Industrieerneuerung zusammengedacht und gelöst werden. Das ist eine echte Chance. So lesen wir etwa in der Studie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) zu Transformationspfaden, dass neues Wachstum konsequente Transformation braucht und dass vor allem die globale Klimatransformation Deutschland neue Wachstumschancen eröffnet. Es wird also auch in der Wirtschaft und dem Mainstream erkannt, dass es zwischen der Ökologie und Ökonomie eben keinen Gegensatz per se gibt und dass gerade die Adressierung der Nachhaltigkeits- und Klimatransformation unsere einzige Chance in Europa und Deutschland ist, neue Wege zu gehen und so die Wirtschaftsstandorte zu stärken. Die Verschränkung des Ökologischen mit dem Ökonomischen bietet eine große Chance, die wir nutzen sollten.„Von der Kohle zur KI“: Mit diesen Worten hat der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst seine Agenda für die Zukunft Nordrhein-Westfalens verkündet. Welche Potentiale sehen Sie im Zuge der Digitalisierung für Ökologie und Wirtschaft bei uns im Ruhrgebiet?Radtke: Das ist natürlich ein politisches Schlagwort, von dem ich offengestellt nicht so viel halte. Ich würde eher sagen: „von der Kohle zur Wissensgesellschaft“. Ich hoffe ja sehr, dass nicht die Künstliche Intelligenz allein die Zukunft dieses Landes bestimmen wird, sondern immer mit natürlicher Intelligenz gepaart bleibt. Denn was Künstliche Intelligenz nicht leisten kann, ist wirklich empathisch zu sein, Werte vorzugeben und sich auf einen Grundkonsens zu einigen, unter dem eine Gesellschaft dauerhaft funktioniert. Die Fliehkräfte sind in dieser Gesellschaft zurzeit immens, sodass die große Gefahr besteht, dass sie auseinanderfällt, aufgrund der vielen Unsicherheiten bei vielen Menschen.Güllmann: Dennoch, was der Ministerpräsident damit sicherlich ausdrücken will, ist, dass das Thema Künstliche Intelligenz an Bedeutung gewinnen wird und dass hierin auch Chancen liegen, um die ökonomische Fortentwicklung zu befördern. Und wenn es darum geht, Institutionen, Unternehmen, die in diesem Segment tätig sind, anzusiedeln, dass dieses dann auch gerade in Nordrhein-Westfalen passieren sollte. So gelesen bin ich selbstverständlich bei dem Schlagwort dabei. Es wäre fatal, die Technologie zu verschlafen und vor lauter Bedenkenträgerei die Chancen, die damit verbunden sind, nicht zu nutzen. Zusätzlich meint er sicherlich auch den Wandel, den das Ruhrgebiet durchgemacht hat, und dass die Zukunft neuen Technologien gehört.Grotewold: Ja, politische Narrative haben immer die Eigenschaft, ein wenig verkürzend zu sein. Ich denke aber, dass die Grundrichtung, die ausgesprochen wird, vollkommen richtig ist. Wirtschaftliche Wachstumschancen liegen in Zukunftstechnologien – dazu gehören natürlich auch die digitalen. Mit der ökologischen Perspektive tue ich mich an einigen Stellen noch ein bisschen schwer und frage mich, wie sehr das Hand in Hand geht, wie die wirtschaftliche positive Entwicklung durch digitale Technologien, also mit dem ökologischen Fußabdruck all dieser Technologien, einhergeht. Man muss sich vergegenwärtigen, dass all diese algorithmischen Systeme einen wahnsinnigen Energieverbrauch haben. Microsoft etwa reaktiviert jetzt in Pennsylvania einen Block eines Atomkraftwerkes, um nur ein einziges Datencenter zu betreiben. Das gibt uns eine Vorstellung davon, welch immenser Energieverbrauch auf uns zukommt. Da sind wir, so denke ich, bei vielen unserer Transformationsstrategien noch nicht ganz am Ende. Denn in vielen unserer Lösungsstrategien sind digitale Elemente enthalten: Autonomes Fahren, Smart City, Smart Grids („intelligentes Stromnetz“) – alles muss smarter werden und wird digital gelöst. Umso wichtiger ist es, das Energiesystem so schnell wie möglich und flächendeckend in Richtung erneuerbarer Energien zu transformieren, um im Nachgang die riesigen, wachsenden Infrastrukturen energetisch betreiben zu können.Vielen Dank für das Gespräch und für Ihre Zeit.