Wohin steuert Deutschland?

3 Fragen an Norbert Röttgen
Über die künftige Innen- und Außenpolitik

ZUR PERSON
Dr. Norbert Röttgen, geboren 1965, ist Jurist und seit 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er war Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Bundesumweltminister und von 2014 bis 2021 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, dem er auch gegenwärtig angehört.

Unsere Gegenwart wird durch zahlreiche eskalierende internationale Konflikte geprägt, etwa in der Ukraine, im Nahen Osten oder im Pazifik. Neue geostrategische Machtblöcke bilden sich heraus, und autoritäre Führungspersönlichkeiten bestimmen zunehmend die internationale politische Bühne. Auch die Wiederwahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA wird für Europa und Deutschland Folgen haben, da dieser auf Isolationismus und Protektionismus setzt und die NATO und damit auch die Führungsrolle der USA in der westlichen Welt in Frage stellt.

Als Folge dieser tiefgreifenden Entwicklungen sind (rechts-)populistische Kräfte weltweit auf dem Vormarsch. Sie versprechen für komplexe Problemlagen einfache Antworten und setzen voll auf die Wirkung von Ressentiments, beispielsweise gegenüber dem „Establishment“, Juden, Muslimen und Migranten. Sowohl die Verschiebungen auf der großen geostrategischen Bühne als auch die Bedrohung von innen durch demokratiezersetzende Strömungen stellen eine große Herausforderung für die Rolle Deutschlands in Europa, der Welt und dadurch auch für das Selbstverständnis der Deutschen dar.

Vor welchen entscheidenden äußeren und inneren Herausforderungen steht unsere liberale Demokratie in Deutschland aktuell? Wer wollen wir zukünftig sein? Und wie kann Herausforderungen und Unsicherheiten begegnet werden? Darüber hat unser Akademiedozent Dr. Jens Oboth mit Dr. Norbert Röttgen, einem der profiliertesten deutschen Außenpolitiker, gesprochen.

01 Herr Röttgen, was sind in Ihren Augen die entscheidenden äußeren und inneren Herausforderungen, vor denen die liberale Demokratie in Deutschland aktuell steht und in Zukunft stehen wird?

Der Krieg ist zurück in Europa. Es gibt zurzeit keine wichtigere Aufgabe für die deutsche und europäische Politik, als den Krieg wieder aus Europa zu verbannen. Denn wenn Wladimir Putin in der Ukraine Erfolg hat, wird der Krieg sich ausweiten und näher an uns heranrücken. Massive Unsicherheit wäre die Folge, die alle anderen Themenbereiche überlagern würde. Aber auch nach innen ist unsere westliche Demokratie in Gefahr. Viele Menschen fühlen sich durch die etablierten Parteien, ihre Politik und ihr Personal nicht mehr repräsentiert. Das schafft Raum für Populisten und Extremisten, die die Ängste der Menschen und ihre Emotionen instrumentalisieren. Das zersetzt die Gesellschaft und unsere Demokratie von innen. Es gibt nur ein Rezept dagegen: Gute Politik, die die Sorgen der Menschen ernst nimmt und gleichzeitig den gewaltigen Herausforderungen unserer Zeit gerecht wird.

02 Inwiefern stellen diese Herausforderungen unsere deutsche Identität in Frage? Wie muss diese sich verändern?

Wir Deutsche müssen entscheiden, wer wir sein wollen in einer Welt, die wieder von Großmachtkonflikt und Unsicherheit geprägt ist. Wollen wir ein Akteur im Sinne der Verteidigung unserer Freiheit und Sicherheit sein oder nicht? Wollen wir, dass Europa zusammenhält oder wieder durch Krieg zerrissen wird? Das sind Fragen, die wir für uns als Gesellschaft diskutieren und beantworten müssen. Das ist nicht nur Sache der Regierung.

03 Was kann und muss Politik tun, damit in Deutschland die Bürgerinnen und Bürger vorhandene Ängste vor der Zukunft überwinden und Zuversicht empfinden können? Und welchen Beitrag können hier in Ihren Augen die Kirchen leisten?

In einer solchen Situation, in der wieder Krieg in Europa herrscht, darf man Angst haben, das ist normal. Man sollte sich nur nicht von seinen Ängsten treiben lassen, und da spielt die Politik eine große Rolle. Was sind die Ziele, welche die Politik verfolgt, und mit welchen Maßnahmen sollen sie erreicht werden? Wenn man das klar und empathisch kommuniziert, dann sind die Menschen in Deutschland sehr offen für Argumente und politische Führung. Klar Stellung zu beziehen in den großen Fragen unserer Zeit und gleichzeitig in der Gemeinschaft Halt zu bieten, ist ein Beitrag, den auch die Kirchen leisten können und sollten.


DEMOKRATIE & KRIEG

Man muss sich die religiöse Sprache nicht unbedingt zu eigen machen, um Dankbarkeit als Grundhaltung einzuüben. Sie ist jedenfalls das erste Heilmittel gegen die Kommunikation im Aggressionsmodus. Dankbarkeit gibt dem Blick auf das eigene Leben und auf die Welt eine bestimmte Perspektive. Die Wahrnehmung des eigenen Lebens und der gesellschaftlichen Verhältnisse kann ja entweder im Ansatz defizitorientiert sein oder eben dankbarkeitsorientiert sein. Wer Defizite sucht, wird sie finden und damit Anlass genug haben, im Bitt-, Klage- oder Schimpfmodus weiterzumachen oder sich als Beobachter in die Distanz zum Leben zurückzuziehen. Wer aber Anlässe zur Dankbarkeit sucht, wird sie ebenfalls finden, nicht nur im persönlichen Leben oder in der religiösen Beziehung, sondern auch im Blick auf die Gesellschaft – Dankbarkeit für Menschen, die täglich ihren Beitrag zum Allgemeinwohl leisten; die in pflegerischen und erzieherischen Berufen Kompetenz mit menschlicher Wärme und Freundlichkeit verbinden; die politische Verantwortung in Kommunen, Ländern und im Bund übernehmen; die unternehmerische Kreativität entwickeln; die sich für Gerechtigkeit einsetzen oder die ehrenamtlich in Vereinen und Kirchen den Zusammenhalt der Menschen vor Ort stärken. Dankbarkeit weitet die Wahrnehmung. Das hilft gerade auch in Krisenzeiten, den Blick nicht auf die Defizitperspektive zu beschränken.

Klaus Mertes
Jesuit, Superior des Ignatiushauses in Berlin und Redakteur der Kulturzeitschrift STIMMEN DER ZEIT

Quelle: Mertes, Klaus: Herzensbildung, Für eine Kultur der Menschlichkeit, Freiburg im Breisgau, Herder, 2024, S. 129f.