Die katholische Kirche und die AfD
Unser Akademiedozent Dr. Jens Oboth hat ein Gespräch mit der renommierten katholischen Sozialethikerin Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins geführt, die mit einem Team von Forschenden in der im Juli 2024 erschienenen Studie „Die Programmatik der AfD – eine Kritik“ das aktuelle Bundeswahlprogramm der AfD mit Positionen der katholischen Kirche abgeglichen hat.
Heimbach-Steins: Frau Heimbach-Steins, vielleicht können Sie einmal schildern, warum es zu dieser Studie kam. Welchen konkreten Anlass gab es?
Bereits 2017 haben wir eine vergleichende Untersuchung zu Positionen der AfD und der katholischen Soziallehre vorgelegt. Damals war die Frage, ob Positionen der Partei für Katholiken akzeptabel beziehungsweise mit christlichen Überzeugungen vereinbar seien oder nicht. Seither hat sich die Lage verändert: Die Partei hat sich radikalisiert, das politische Großklima hat sich auch international, überwiegend im Sinne einer deutlichen Rechtsdrift, gewandelt. Die Kirchen haben klargestellt, dass Programme, Rhetoriken und politisches Handeln, die völkisch-nationalistisches Denken aggressiv propagieren, mit christlichen Grundüberzeugungen nicht vereinbar sind. In diese Lage hinein und mit den Wahlen dieses Jahres vor Augen haben wir Anfang 2024 beschlossen, noch einmal genau hinzuschauen und mit einer neuen Untersuchung Material und Argumente für eine gründliche Auseinandersetzung anzubieten. Es geht darum, Menschen zu erreichen, die sich Sorgen machen um die Zukunft unserer offenen Gesellschaft, um die ethischen Standards unseres Zusammenlebens und die von einem christlichen Standpunkt aus informiert Position beziehen wollen.
Oboth: Erklären Sie doch bitte, wie Sie methodisch beim Verfassen der Studie vorgegangen sind.
Heimbach-Steins: Wir haben auf zwei Ebenen textanalytisch gearbeitet: Zuerst haben wir Leitmotive und durchlaufende Narrative in der Parteiprogrammatik untersucht, um Grundlinien zum Verständnis von Staat, Demokratie, Kultur, Geschichtsbild etc. herauszuarbeiten und die populistische Identitätspolitik zu beleuchten. Denn das sind sozusagen die Vorzeichen, die die Aussagen zu konkreten Themen bestimmen. Zudem haben wir neun Themenanalysen erarbeitet: Geschlecht, Familie und Reproduktion; Zuwanderung und Asyl; Religionen und Identitätspolitik; Medienpolitik; Sozialstaatsfragen; Wirtschaftspolitik; Europa; Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie Klimawandel und Ökologie.
Die 2024 von einem Autor:innenteam herausgebrachte Studie „Die Programmatik der AfD – eine Kritik“ liefert Material und Argumente für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den sozialen und politischen Positionen der AfD. Sie richtet sich an Christ:innen und Bürger:innen, die sich über die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Sorgen machen und eine informierte Position beziehen möchten.
Dabei sind wir in drei Schritten vorgegangen: Erstens haben wir die Positionen der AfD beschrieben, diesen zweitens Positionen der katholischen Soziallehre gegenübergestellt und drittens die Befunde sozialethisch vergleichend kommentiert. Vielleicht noch ein Wort zur Quellenbasis: Wir haben Wahlprogramme der AfD, vor allem die Programme zur Bundestagswahl 2021 und zur Europawahl 2024 sowie verschiedene Landtagswahlprogramme, analysiert. Die Studie arbeitet also mit Positionen, die von Parteitagen beschlossen wurden, nicht mit Einzelmeinungen oder Gelegenheitsäußerungen, von denen man sich nach Belieben wieder distanzieren könnte. Für die katholischen Positionen beziehen wir uns auf offizielle Texte des Papstes, der Gesamtkirche sowie der Deutschen Bischöfe.
Oboth: Gab es für Sie und die Mitverfassenden etwas, was Sie inhaltlich bei der Kontrastierung der Positionen besonders überrascht hat?
Heimbach-Steins: Wenn man die Entwicklungen der letzten Jahre verfolgt hat, ist es nicht überraschend, dass die Programmtexte die Radikalisierung der Parteipositionen spiegeln. Erschreckend ist aber, wie weit das geht. Alles Krisenhafte wird als Katastrophe gelesen und zu einem umfassenden Bedrohungsszenario komponiert. Vor diesem zutiefst pessimistischen Hintergrund wird das Bild einer Gesellschaft entworfen, die sich gegen alles Fremde und gegen alle, die als anders wahrgenommen werden, abschotten muss: das Bild einer Gesellschaft ohne Empathie gegenüber besonders verletzlichen Menschen und Gruppen. Da zeigt sich eine gefährliche Allianz aus völkischem Nationalismus und krassem Leistungsdenken zu Lasten von Ärmeren, von Menschen mit Behinderung, von Menschen, die im Alter nicht mehr leistungsfähig sind, von Zugewanderten und Geflüchteten, die bei uns Schutz suchen. Völlig überzeichnete Bedrohungsszenarien sollen legitimieren, dass „Deutsche“ gegen alles „Fremde“ geschützt, Vielfalt jeglicher Art abgewehrt werden müsse und deshalb jedes „Anderssein“ diskriminiert wird. Solches Freund-Feind-Denken, ein gnadenloses Wir gegen die Anderen, kennt Solidarität ausschließlich für die Wir-Gruppe. Es ignoriert die Reichweite der globalen Verflechtungen und Abhängigkeiten ebenso wie die positiven Aspekte einer offenen und vielfältigen Welt.
Oboth: Auch in der katholischen Kirche gibt es Menschen, die mit der AfD sympathisieren, weil sie beispielsweise Schnittstellen zwischen dem Parteiprogramm der AfD und offiziell geltender katholischer Lehre finden, etwa in Fragen des klassischen Familienbildes, der heteronormativen Geschlechterordnung bzw. dem Gender-Thema. Gibt es diese Anschlussstellen?
Heimbach-Steins: Es gibt Aussagen, die ähnlich sind, etwa zum Schutz des ungeborenen Lebens, zum traditionellen Familien- und Frauenbild und in der Ablehnung von Gender. Gerade da gilt es genau hinzuschauen und die Aussagen in ihrem ideologischen Rahmen zu lesen: Familienbild und Familienpolitik der AfD etwa stehen unter dem Vorzeichen der nationalistischen Bevölkerungspolitik; Familienpolitik für deutsche Familien von der sozialen Mittelschicht aufwärts soll als aktivierende Familienpolitik bewirken, dass die richtigen Familien genügend Nachwuchs bekommen, um die demografische Katastrophe abzuwenden. Ein passendes soziales Marketing soll das Leitbild der Drei-Kind-Familie durchsetzen. Migrantische Familien, arme Familien sollen weniger oder nicht gefördert werden. Ein solcher Ansatz passt aber gar nicht zum katholischen Familienverständnis. Es differenziert Familie nicht nach Nationalitäten, und trotz seines traditionellen Charakters und normativen Anspruchs ist es für die Förderung familialen Lebens auch in Formen, die nicht dem eigenen Ideal entsprechen. Beim Thema Gender gelingt eine solche Unterscheidung, jedenfalls auf der Basis der römischen lehramtlichen Texte, nicht; da sind sich die Positionen in ihrer undifferenzierten Ablehnung sehr ähnlich. Das ist aus unserer Sicht die für die Kirche beschämende Ausnahme in dem gesamten untersuchten Themenspektrum.
Oboth: Was sind in Ihren Augen die entscheidenden Punkte, die die AfD für Christ:innen unwählbar machen?
Heimbach-Steins: Eine Politik der Ausgrenzung nach dem Freund-Feind-Schema steht in krassem Widerspruch zu einem christlichen Verständnis des menschlichen Miteinanders unter den Vorzeichen von Geschöpflichkeit, Gotteskindschaft, Personwürde, Nächstenliebe und der Option für die Armen. Deshalb muss gegen alle Positionen, die bestimmte Gruppen diskriminieren und ihnen gleiche Achtungsansprüche und gleiche Rechte verweigern oder entziehen wollen, entschiedener Widerspruch eingelegt werden. Das gilt natürlich auch gegenüber anderen Akteuren! Konkret geht es etwa um den Umgang mit Zuwanderern, Geflüchteten und Asylsuchenden – Stichwort Remigration, aber auch um die Marginalisierung von Menschen mit einer Behinderung und die explizit inklusionsfeindlichen Positionen der AfD, die ausgrenzende Sozialpolitik und die Diffamierung muslimischer Menschen. Auch die Leugnung des menschengemachten Klimawandels, die verantwortungslose Hetze gegen angebliche Klimahysterie sind vor dem Hintergrund des christlichen Auftrags, die Schöpfung zu bewahren, inakzeptabel.
Oboth: Wie ist Ihrer Meinung nach mit Personen umzugehen, die sich beispielsweise in Kirchenvorständen, Pfarrgemeinderäten oder als Religionslehrer:innen AfD-affin zeigen?
Heimbach-Steins: Es kommt darauf an, was affin konkret bedeutet. Wenn Menschen zu solchen politischen Positionen neigen, aber zugänglich sind für faire Auseinandersetzung, sollte eben das versucht werden. Wenn eine solche Affinität zum Beispiel Ausdruck der Sorge um die Familie, um eine traditionelle Lebensweise und eine als bedroht erlebte Sicherheit ist, kann es wichtig sein, diese Menschen mit der Frage zu konfrontieren, ob sie wirklich auch alles Andere wollen können, was man sich einhandelt, wenn man dieser politischen Kraft Vertrauen schenkt und sie gegebenenfalls aktiv unterstützt. Wenn Menschen schon festgelegt sind, eventuell sogar rechtsextreme Positionen teilen und sich in diesem Sinne politisch engagieren, dann muss eine klare Trennlinie gezogen werden. Man kann nicht gleichzeitig eine Politik programmatischer Ausgrenzung und Spaltung der Gesellschaft unterstützen und in einem kirchlichen Ehren- oder Hauptamt den Anspruch christlicher Nächstenliebe glaubwürdig bezeugen.
Oboth: Die Deutsche Bischofskonferenz hat im Februar 2024 in einem Positionspapier klar geäußert, dass völkischer Nationalismus und Christentum unvereinbar seien. Kritiker:innen dieser Erklärung sehen dies als eine illegitime Einmischung der Kirche in politische Belange. Wie begegnen Sie diesem Vorwurf und was sind Ihre zukünftigen Erwartungen sowohl an die Kirche als auch an die Gläubigen angesichts der anhaltenden Wahlerfolge der AfD?
Heimbach-Steins: Aus meiner Sicht haben die deutschen Bischöfe und die Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland gut daran getan, sich klar gegen die Ideologie des völkischen Nationalismus zu positionieren. Als öffentliche Akteure haben die Kirchen eine Mitverantwortung für das Zusammenleben. Sie können nicht unbeteiligt beiseitestehen, wenn Strömungen an Einfluss gewinnen, die die Grundlagen eines menschenwürdigen und fairen Umgangs, die Anerkennungsansprüche eines jeden Menschen untergraben. Das liegt parteipolitischer Einflussnahme weit voraus. Wachsamkeit, klare Widerworte und entschiedene Anwaltschaft für diejenigen, die von Ausgrenzung und Diffamierung bedroht oder betroffen sind, ist gerade jetzt Auftrag der Gläubigen in ihren Lebenswelten und der Kirchen.